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Interview mit The Electric Family (17.06.2017)

The Electric Family

Die Welt ist irre – ein einziger Zirkus, Terra Circus eben!“

Es war schon eine Riesenüberraschung, dass sich nach zehn Jahren Pause THE ELECTRIC FAMILY um Tom „The Perc“ Redecker mit einem neuen Album zurückmeldete, um so gleich ihren 20. Geburtstag zu feiern. Allein das als LP und CD erhältliche Album „Terra Circus“ hält jede Menge an Überraschungen für alle, die sich der elektrischen Familie zugehörig fühlen, bereit. Auch steckt so einige Wut in „The Perc“, die einen guten Grund hat und der wir mit diesem Interview zugleich ein wenig Platz einräumen wollen, genauso wie den einzelnen Musikern, die auf „Terra Circus“ als elektrische Familie ihre Leuchtsignale hinterlassen.


Grüß dich, Tom!

Du bist der musikalische „Electric-Meister“ hinter THE ELECTRIC FAMILY, die, wenn man auf ihre 20jährige Geschichte zurückblickt, ein riesengroßer Familien-Clan geworden ist. Allerdings war bis zu „Terra Circus“ gut zehn Jahre relative Funkstille angesagt, und man hatte den Eindruck, alle musikalischen Familienbande wären durchschnitten. Doch plötzlich taucht ihr wie Phoenix aus der Asche mit einem neuen Album aus der Versenkung auf. Welchen Grund gab es einerseits für die Funkstille und andererseits für die familiäre Wiederbelebung?

Wir hatten 2007, direkt nach dem letzten Album „Royal Hunt“ eigentlich schon angefangen, an neuen Songs zu arbeiten. Wir haben im Alien Style Studio von Rolf Kirschbaum sogar schon einige Spuren hingelegt für 5 neue Titel. Die Pause sollte keine 10 Jahre dauern, ganz im Gegenteil. Aber dann passierten doch einige Dinge, die zu dieser langen Pause führten. Ich betreibe ja neben meiner Agentur Shack Media noch das Label Sireena Records, das ich 2000 zusammen mit Lothar Gärtner gegründet habe. Ende 2005 ist Lothar verstorben, und ich habe das Label zwei Jahre allein geführt, bis 2008 mit Bernd Paulat ein neuer Partner bei Sireena eingestiegen ist. Mit Bernd kam neuer Schwung in die Geschichte, und Sireena Records entwickelte sich in den nächsten Jahren prächtig, und wir sind sehr stolz darauf, dass unser Label inzwischen zu den führenden Reissue-Companies zählt. Für mich als Musiker bedeutete das jedoch erst einmal, mich von neuen musikalischen Aktivitäten zu verabschieden. Ich war als Producer bei Sireena einfach zu sehr gefordert. Folglich habe ich in den nächsten Jahren vor allem die eigene Katalogpflege betrieben. Es erschienen Best of-Compilations von THE PERC MEETS THE HIDDEN GENTLEMAN und TARAS BLUBA sowie meine Archivauswertung Electric Kindergarten mit bisher 6 Ausgaben.

Es war dann mein langjähriger musikalischer Kollege Harry Payuta, der nach einem längeren Auslandsaufenthalt wieder in Bremen weilte, und der mich dazu brachte, wieder aktiver als Musiker zu agieren. Wir stellten 2014 das Projekt SUN TEMPLE CIRCUS zusammen und gingen damit auch auf Tour. Spätestens da merkte ich, dass es noch ein Leben neben Shack Media und Sireena gab, und wie sehr ich auch mein Musikerleben vermisst hatte. 2015 erschien unserer erstes und bisher einziges Album als STC und seit damals hat auch THE PERC wieder einen wichtigen Platz in meinem Leben gefunden. Und von STC zur Wiederbelebung der ELECTRIC FAMILY war es nur ein kleiner folgerichtiger Schritt.

 

Wie kam es eigentlich zur aktuellen Family-Besetzung auf „Terra Circus“ und kannst du uns dabei gleich mal die Musiker etwas genauer vorstellen, über ihren unmittelbaren Einfluss auf das Album und natürlich auch deinen ganz speziellen Einfluss darauf sprechen?

Wir wollten im letzten Jahr mit STC eine kleine Tour zusammen mit Agitation Free machen. Die Idee zerschlug sich allerdings. Wir hatten natürlich für die Konzerte geprobt und sind einfach kurzentschlossen ins Studio gegangen um einige der Titel einzuspielen. Erst während der Recordings wurde uns so richtig klar, dass mit Harry, Rolf, Hanno und mir vier Electric Family-Members der ersten Stunde in der Band waren.

Da stand für uns fest, dass wir das erste Studioalbum der Electric Family seit 10 Jahren eingespielt hatten.

Bei den beteiligten Musikern muss ich zuallererst Rolf Kirschbaum erwähnen. Rolf kenne ich seit rund 30 Jahren. Er arbeitete damals im Studio Calling in Bremen, und wir haben mit THE PERC MEETS THE HIDDEN GENTLEMAN einige Songs aufgenommen - zusammen mit Rolf, der auf einigen Titeln auch Gitarre spielte. Ich weiß noch, dass Emilio und ich schwer begeistert waren von Rolf, und er ist dann ja auch mit uns als Gastgitarrist durch die Welt gezogen. Aber sein eigenes Projekt THE PACHINKO FAKE lag ihm natürlich mehr am Herzen, und deshalb hat er sich nach einem Jahr wieder verabschiedet. Apropos PACHINKO FAKE. Eigentlich müsste die Band weltberühmt sein, für viele gehört die Band zum Besten, was seit den Achtzigern aus Bremen gekommen ist. Sehr eigenständige, intelligente Rockmusik zwischen Avantgarde und Prog, ich habe sie immer sehr gemocht. Und ein Album wie „Yo Kundam“ höre ich noch heute gerne! Rolf hat dann diverse Tourneen als Gitarrist und Sänger gefahren, u.a. mit den Fehlfarben und Joachim Witt, viele Aufnahmen gemacht, live und im Studio, und er ist seit 1996, als wir mit den Aufnahmen zu „Family Show“ begonnen haben, als Aufnahmeleiter und Musiker bei The Electric Family dabei. Mehr über Rolf gibt’s unter www.alienstyle.de.

Auch Harry Payuta kenne ich schon mindestens 27 Jahre lang. Ist ja auch ein Bremer Urgestein, der in so vielen Projekten gespielt und viele Dinge ausprobiert hat – auch heute noch. Er hat übrigens auch bei dem Album „Lavender“ von THE PERC MEETS THE HIDDEN GENTLEMAN 1991 mitgespielt, damals noch als Chooby Harry. Das war zu der Zeit sein Künstlername bei den VEEJAYS, einer wirklich großartigen Band irgendwo zwischen Rockabilly und Garage, die eine Weile Tav Falco begleitet haben. Die Veejays waren übrigens Anfang der Neunziger zusammen mit The Pachinko Fake und The Perc Meets The Hidden Gentleman bei Strange Ways Records unter Vertrag, wir waren also quasi Labelmates und haben öfter auf den selben Veranstaltungen gespielt. Da lernt man sich natürlich besser kennen, und Harry war meine erste Wahl als Bassist, als wir 1996 The Electric Family gegründet haben. Da war er schon ein meisterhafter Didjeridoo-Spieler, und das war wirklich eine wunderbare zusätzliche Klangfarbe - sowohl live als auch auf Tonträger. Harry war bis 2000 bei allen Konzerten und Platten dabei, danach startete er seine Karriere als Solist und hat bis heute fast ein Dutzend Alben herausgebracht. Inzwischen zählt er zu den besten Rock-Sitaristen, und ich bin sehr froh, dass er dabei ist. Mehr zu Harry gibt’s unter www.payuta.de.

Hanno Janssen trommelt seit 1997 bei der Electric Family. Er war erstmals bei der Space Caravan '97 dabei, der gemeinsamen Tour von The Electric Family, Taras Bulba und Ear Tranceport und ist bis heute der Drummer, der bei allen Live-Gigs dabei war. Cooler Typ und Alleskönner!

In die gleiche Kategorie gehört Steff Ulrich, der auf „Terra Circus“ das erste Mal die Felle rührt. Steff betreibt mit seinem Bruder das Studio Palais aux Etoiles (www.etoiles.de) in Bremen, wo wir die Platte aufgenommen haben. Ein enorm druckvoller und vielseitiger Typ.

Und dann haben wir noch Anders Becker, der auf dem Album die Tasten drückt. Anders ist nach dem verstorbenen Volker Kahrs der erste Voll-Keyboarder in der Band, und er macht einen sagenhaften Job! Für ihn kommen nur analoge Keys in Frage, das braucht Platz und Muskelkraft. Aber das, was er seinen Kisten entlockt, ist einfach großartig. Er spielte früher bei der Mandra Gora Lightshow Society, hat aber noch seine eigene Band Liquid Orbit, die gerade ihr Debütalbum herausgebracht hat.

 

Wenn jeder der an „Terra Circus“ Beteiligten seine drei Insel-Platten, die er niemals mehr missen möchte oder die seine eigene Musiker-Karriere befeuerten, nennen sollte, welche wären das?

 

Anders Becker (keyboards):

Group 1850: Agemos Trip to Mother Earth

Pretty Things: S.F. Sorrow

John Coltrane: A Love Supreme

 

The Perc (vocals, guitar):

Neil Young: Harvest

Jefferson Airplane: Volunteers

Larry Coryell: Barefoot Boy

 

Harry Payuta (vocals, sitar, bass):

Frank Zappa: London Symphony Orchestra, Vol. 1 & 2

J.S. Bach: Sonaten und Partiten für Violine solo

Pink Floyd: Pulse

 

Rolf Kirchbaum (vocals, guitar):

David Bowie: 1. Outside

Cracker: The Golden Age

Tony Scott: Music for Zen Meditation And Other Joys

 

Hanno Janssen (drums):

Talking Heads: Remain In Light

Frankie Goes To Hollywood: Welcome To The Pleasure Dome

Kate Bush: Never for Ever

 

Steff Ulrich (drums):

Uri Caine Trio: Live At The Village Vanguard

Led Zeppelin: I

Grace Jones: Slave To The Rhythm

 

Eigentlich sagt der Titel eures 2017er Albums schon so einiges über die textliche Botschaft hinter „Terra Circus“ aus. Verfolgst du damit ein bestimmtes Konzept? Und kannst du kurz etwas über die Absicht dahinter erzählen?

Ursprünglich sollte das Album „Temple Circus“ heißen, quasi als Verbeugung vor Sun Temple Circus. Aber zu der Zeit war auch Populisten-Hayday mit der Wahl von Trump, der bevorstehenden Wahl in Österreich und Frankreich – die Welt war verrückt, Fake News, Verschwörungstheorien, Fremdenfeindlichkeit. Völlig irre, die Welt war ein einziger Zirkus, Terra Circus eben.

 

Wer kam denn auf die Idee, gerade eine Cover-Version von CAN und eine von den SISTERS OF MERCY auf diesem irdischen Musikzirkus unterzubringen. Warum fiel die Wahl auf diese beiden, von ihrem musikalischen Ansatz her doch sehr unterschiedlichen Bands?

Coverversionen sind immer eine besondere Herausforderung. Es geht uns ja nicht darum, einen Song nachzuspielen, sondern ihm eine eigene Handschrift zu verleihen. Die Titel werden dann immer ein Stück zu eigenen Titeln. Wir haben mit der Family schon immer Fremdtitel neu interpretiert ohne das Copyright der Urheber zu verletzen. Das ist uns wichtig. Sowohl „Lucrecia, my Reflection“ als auch „Mary, Mary so contrary“ sind Stücke, die viel Raum lassen für Improvisationen, die man steigern kann. Sie haben keine Refrains, sondern bewegen sich immer in den selben Tonarten. Ideale Jam-Titel, und The Electric Family ist live eine Jamband. Man darf nicht vergessen, dass wir das Album live eingespielt haben.


Wie bereits erwähnt, hast du schon eine Unmenge von Musikern in deiner Musik-Familie adoptiert, die auch bei den ÄRZTEN, EMBRYO, AMON DÜÜL, WITT, PAGE/PLANT, GROBSCHNITT, RAMBLERS, NEIL DIAMOND und, und, und aktiv waren. Woher stammen alle Kontakte und gibt es ein paar Musiker, die dir dabei besonders ans Musikerherz gewachsen sind und ein paar, für die dieses Herz aus der Distanz betrachtet, nicht ganz so leidenschaftlich mehr schlägt?

Wenn man so lange Zeit dabei ist, kennt man halt eine Menge Leute. Die kennen wiederum wieder andere, und so stellt sich relativ schnell eine Crew zusammen. Das ist keine Kunst oder Begabung, das ist einfach Logistik und Planung. Natürlich bedeutet ein Projekt wie The Electric Family in seiner musikalischen Vielseitigkeit auch eine Herausforderung für einen Musiker. Frag mal Hermann Lammers-Meyer, ein ausgewachsener Country-Musiker, der Pedal Steel Guitar bei Pink Floyds „Careful with that Axe, Eugene“ spielen musste, oder Punkrocker Hagen Liebig, der Bass bei dem Countryroller „Dancin' Lady“ gespielt hat. Oder Ulla Meinecke, die sich spontan einen englischen Text zu „Solid Structure“ überlegen musste. Viele Musiker haben erst bei Betreten des Studios erfahren, was sie spielen sollten. Ich bin sehr glücklich über jeden, der bisher dabei gewesen ist, und ich möchte auch keinen hervorheben. Alle waren toll! Aber natürlich vermisse ich Volker Kahrs, der von Anfang an bis zu seinem Tod bei allen Konzerten und auf allen Platten dabei war. Sein plötzlicher Tod war wirklich schmerzhaft.


Nun fiel dem Ost-Kritiker natürlich in eurem Familienstammbaum sofort auf, dass du sogar mit ehemaligen DDR-Rockmusikern aktiv warst. Wie waren die Jungs von ROCKHAUS, PANKOW und besonders ANGELIKA WEIZ denn so? Gab es Unterschiede in der Zusammenarbeit mit den „Wessies“ und „Ossies“?

Keine Unterschiede! Gerade die Aufnahmen mit Rainer Kirchmann und Ingo Yorck, die ja prägende Musiker der DDR-Rockmusik waren, haben unheimlich Spaß gemacht. Das waren zwei enorm spannende Tage im ehemaligen Studio des Rundfunks der DDR in Berlin. Ich mag ja die damaligen Bands aus dem Osten. RENFT ist für mich eine der besten gesamtdeutschen Bands, und auch PANKOW und STERN-COMBO MEISSEN zähle ich dazu. Und noch einige andere! Gerade das Abhängen zwischen und nach den Aufnahmen war enorm unterhaltsam. Und feuchtfröhlich. Mann, konnten die Jungs erzählen! Und Angelika Weiz ist eine echte Lady. Uwe Knak, auch bekannt als Voodoo von Philip Boa's Voodoo Club, hatte uns bekannt gemacht. Wir haben sie dann 1999 mit auf Tender-Tour genommen, und sie hat einige Titel gesungen. Tolle Sängerin, mitreißend mit tierischer Stimme.

 

In so einer langen Familiengeschichte gibt es bestimmt ein paar Erinnerungen, die du niemals missen möchtest, Trauriges wie Lustiges. Kannst du uns ein paar davon verraten?

Egal, wer im Studio was spielte, es ging eigentlich immer lustig und relaxt zur Sache. Das war auch ein Verdienst von Rolf Kirschbaum, der zumeist hinter den Reglern saß und den nichts aus der Ruhe brachte. Dafür können wir alle Rolf gar nicht genug danken! Denn es ging zum Teil wüst ab im Studio. Die Leute kamen und gingen, es wurde viel gelacht, geraucht, getrunken. Und es passierte alles ohne Druck und Stress. Es gab kein fettes Budget, das eingehalten werden musste, und kein Produzent saß uns im Nacken. Deshalb habe ich eigentlich nur gute Erinnerungen an die bisherige Zeit mit der Electric Family, denn auch auf Tour lief es bis auf kleine Reibereien immer recht unkompliziert ab. Das ist einfach eine geile Truppe, und ich bin stolz darauf, ein Teil davon zu sein.

 

Wie soll es zukünftig mit der Familie weitergehen? Wird es Nachwuchs geben? Welche weiteren Aktivitäten sind geplant?

Ich bin sicher, dass es nicht wieder 10 Jahre bis zum nächsten Album braucht. Das Interesse an „Terra Circus“ ist enorm, und wir stellen fest, dass auch eine neue Generation von Musikfans Spaß und Freude an unserem Haufen zu haben scheint. Wir konzentrieren uns aber jetzt auf 2018, wo ja auch Live-Konzerte stattfinden sollen. Außerdem wird es mal Zeit, nach 6 Alben ein erstes Fazit zu ziehen. Im kommenden Jahr wird es folgerichtig eine Werkschau der Familie geben, die auch neue Aufnahmen enthalten soll.

 

Tom, ich danke dir für dieses Interview und wünsche dir als Familienoberhaupt ein ideales Händchen, um deine „Kinder“ auf den genau richtigen Kurs zu bringen!


 

Thoralf Koß - Chefredakteur (Info)
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