Musikreviews.de bei Facebook Musikreviews.de bei Twitter

Partner

Statistiken

Interview mit Replikas (01.07.2012)

Replikas

 

In der Türkei tun sich wahre Schätze auf, was Rockmusik betrifft, sowohl in der Vergangenheit als auch aktuell, da die Istanbuler REPLIKAS mit proggig angehauchtem Alternative Rock aufwarten. Ihr jüngstes Album, das anderswo auf diesen Seiten besprochen wird, widmet sich dem einheimischen Erbe. Die Bandmitglieder, die bereits in Fatih Akins Doku „The Sound of Istanbul“ in Erscheinung traten, stellt sich unseren Fragen gemeinsam.

Nicht jede Band lässt Alben von Helmet- und White-Zombie-Klangmeister Wharton Tiers produzieren. Wie seid ihr auf ihn gekommen?

Wir entschlossen uns dazu, erstmals mit einem Außenstehenden zu arbeiten, noch ehe wir einen Plattenvertrag für unser drittes Album „Avaz“ hatten. Dazu stellten wir eine kurze Liste der Wunschkandidaten zusammen – Steve Albini war auch vertreten – und ließen unser Management Klingeln putzen. Tiers zeigte Interesse, und Doublemoon, bei denen wir letztlich unterzeichneten, gaben grünes Licht, sodass der Zusammenarbeit nichts mehr im Weg stand. Wharton half uns sehr dabei, einen eigenständigen Sound für die Songs zu entwickeln, und ist obendrein ein wunderbarer Mensch. Mit dieser Erfahrung und weil wir ihm genau auf die Finger geschaut haben, fassten wir den Mut, alle weiteren Alben allein anzugehen.

Wie seid ihr ins Filmmetier vorgedrungen? Worin unterscheidet sich das Schreiben eines gewöhnlichen Bandalbums vom Komponieren eines Soundtracks?

Bislang haben wir zwei Projekte für abendfüllende Filme verwirklicht, „Maruf“ 2001 und „Iki Genç Kiz“ („Zwei Mädchen aus Istanbul“) 2005, beide jeweils von Serdar Akar beziehungsweise Kutlug Ataman. Darüber hinaus sind einzelne Songs von uns in anderen Filmen zu hören, etwa in Pascal Elbés „Tête de turc“ von 2010. Da wir das Kino von jeher bewundern, war es schon immer unser Wunsch, Musik zu einem Film beizutragen. Das Produzententeam Yeni Sinemacilar besuchte regelmäßig den Club, in dem wir spielten. Sie sahen uns und glaubten, unser Sound passe zur Stimmung von „Maruf“. Bei Ataman war es ähnlich; er suchte nach einer Band, die das emotionale Auf und Ab seiner Hauptfigur widerspiegeln könne, erlebte uns live und entschied sich für REPLIKAS.

Die Arbeit an Soundtracks unterscheidet sich erheblich von normalen Alben, da man nicht unabhängig schreibt, sondern sich mit dem Regisseur kurzschließen muss. Die Musik ist in diesem Fall nur eine Ebene eines mehrdimensionalen Kunstwerks, aber eine gewisse Freiheit bleibt trotz der Beschränkungen hinsichtlich ästhetischer und funktioneller Fragen natürlich erhalten, bei uns auch in puncto Instrumentierung, Konzeption und Dauer. Deshalb freuen wir uns auch auf weitere Engagements auf diesem Feld.

Im Booklet der aktuellen Coverscheibe schreibt ihr, „Aya Bak Yildiza Bak“ sei auf der Bühne gewachsen; gehört es fest zu eurem Progamm, und spielt ihr auch andere Songs aus fremder Feder?

Es ist eines der ältesten Covers, die wir spielen. Schon 1999 haben wir ein Demo davon aufgenommen, und bereits damals war ein Teil unserer Spielzeit türkischen Rock-Klassikern vorbehalten. Einige der Stücke auf dem Album wählten wir bewusst anhand früherer Sets; den Rest haben wir neu ausgesucht und arrangiert.

Dass ihr andere stilistische und inhaltliche Pfade beschreitet als eure Idole, ist offensichtlich. Wo seht ihr die deutlichsten Unterschiede?

Das eigene Schaffen objektiv zu werten und auf die Musik anderer zu beziehen ist recht schwierig. Was wir allerdings als Maxime verstanden wissen wollen, ist Offenheit gegenüber allen künstlerischen Einflüssen, egal aus welchem Bereich. Zweitens nehmen wir uns vor, Wiederholungen zu meiden. Jedes unserer Alben soll eine andere Herangehensweise zeigen; das Publikum darf sich gewiss vorbehalten, welche Richtung ihm gefällt oder nicht.

Mehrere Stimmen in Fatih Akins „Crossing The Bridge“ behaupten, ein Kampf der Kulturen fände überhaupt nicht statt, oder mit anderen Worten: Eine Kluft zwischen Ost und West existiere eigentlich nicht, zumindest nicht von Mensch zu Mensch. Würdet ihr das unterschreiben?

Lebensarten mögen sich je nach Ort und Land unterscheiden, aber wir sprechen über das größere, das gesamte Bild – die Menschheit an sich. Der sogenannte „Cultural Clash“ zieht in der Regel politische Implikationen nach sich, und Vorurteile gegenüber Kulturen beziehungsweise falsche Auffassungen aufgrund nationalistischer Tendenzen in Europa stellen eine seltene Ausnahme dar.

Andererseits wirken selbst türkische Rockbands relativ isoliert. Überwiegend scheint ihnen gleich zu sein, ob sie außerhalb ihrer Gegend wahrgenommen werden. Dies sieht man schon anhand der wenigen, die Informationen über sich in Englisch bereitstellen. Wie erklärt ihr euch das?

Über einen Kamm scheren kann man die Gründe wohl nicht, denn je nach Band dürfte es andere geben. Von unserer Warte aus hat sich die Situation aber Mitte des vergangenen Jahrzehnts gewandelt. Immer mehr Gruppen erregen international Aufmerksamkeit, denn die jüngere Generation legt größeren Wert darauf, sich nach außen hin mitzuteilen.

Wie sieht es bei euch selbst aus? Spielt ihr oft im Ausland?

Das tun wir schon, seit unser zweites Album „“Dadaruhi“ veröffentlicht wurde, wenngleich es häufiger geschehen dürfte. Jetzt im Juli treten wir verstärkt in anderen Ländern auf, zumal es uns wichtig ist, so viele Menschen wie möglich zu erreichen. Was dies angeht, hat uns „Crossing The Bridge“ auf die Sprünge geholfen.

Im Westen bestehen immer noch Missverständnisse bezüglich der Rolle der Frau in der relativ moderaten islamischen Gesellschaft der Türkei. Was könnt ihr über Frauenfeindlichkeit innerhalb der Musikszene erzählen, die zum Teil ohnehin anfällig dafür ist, ob nun Rock oder Hip Hop?

Misogynie ist durchaus ein Thema, besonders im Pop- oder Arabesk-Bereich, und wir würden nicht einmal von Missverständnissen sprechen, was den Westen betrifft, denn unsere Regierung versucht immer noch, Frauen gesetzlich einzuschränken, etwa indem sie Abtreibung verbietet, was gegen die Menschenrechte verstößt, und dem weiblichen Teil der Bevölkerung generell inakzeptable Bedingungen stellt.

Crossing The Bridge“ hinterlässt den Eindruck, die Leute seien offensichtlich nicht in der Lage, ihre eigene Kultur und Musik wertzuschätzen, solange sie keine Gelegenheit erhalten, ihre Umgebung zu verlassen und von außen zu betrachten. Konnten junge türkische Musiker ihren Wurzeln erst im Zuge der Demokratisierung und Öffnung nach Europa etwas abgewinnen?

Wie du sagst, liegt dies in der Natur des Menschen, und die Situation in der Türkei gestaltet sich kompliziert. Die Wurzeln bedeuteten älteren Generationen sehr viel, was man der anatolischen Pop-Welle damals anhörte, doch mit der Krise während der Achtziger brachen das gesamte kulturelle Erbe und der gesellschaftliche Kanon zusammen. Traditionspflege fand gezwungenermaßen nur im Verborgenen statt, und Lokalkolorit kam gänzlich abhanden. Als wir aufwuchsen, galt es als tabu, sich von regionalen Kulturen innerhalb des Landes beeinflussen zu lassen. Anfang der Neunziger stellten die Menschen dies zunehmend infrage. Infolgedessen entdeckten Bands wie Zen oder Nekropsi die alten Werte wieder und verbanden sie fast unbewusst mit aktuellen Impulsen.

Mich interessiert der Status des Heavy Metal in der Türkei. Hier weiß man allenthalben von Mezarkabul, aber damit hat es sich schon. Man könnte meinen, die Szene verberge sich abgesehen von einer Handvoll Bands. Ihr kennt die Wahrheit aus erster Hand, also erzählt mal …

Die Metal-Szene in der Türkei brummt schon seit über 25 Jahren. Es gibt tonnenweise Bands, aber keine Ahnung, warum die nicht weiter wahrgenommen werden. Hör die Chopstick Suicide an, wenn du wissen willst wie es gegenwärtig um den Metal bei uns bestellt ist.

Erkin Korays Musik ist für euch sehr wichtig; was hob ihn von den übrigen führenden Rockmusikern seiner Zeit ab?

Er legt einen unvergleichlichen Stil an den Tag, ob er fremdes Liedgut interpretiert oder eigenes. Obwohl er in verschiedenen Genres wildert, erkennt man ihn sofort beim Hören. Wir stießen auf ihn, als wir uns mit westlicher Avantgarde befassten, und wurden so zur Tradition unseres Landes gelenkt.

Da ihr darauf hinweist, euch nicht an den üblichen Verdächtigen der türkischen Rockmusik vergangen zu haben: Wo sollten Interessierte beginnen, wenn sie den Sound eures Landes erschießen möchten?

Die frühen Sachen von Erol Büyükburç orientieren sich am Rock zu Beginn der Sechziger, also ergibt es Sinn, bei ihm anzufangen. Koray begann ebenfalls zu jener Zeit, wohingegen Tülay German zwar nicht im Rock angesiedelt, aber trotzdem ungeheuer wichtig ist, weil sie und ihr Partner Edem Buri die Pioniere des Anadolu Pop waren. Abgesehen von den Namen, denen wir auf dem aktuellen Album Tribut zollen, sind Bunalimlar, Selda, Fikret Kizilok, Üç Hürel und Özdemir Erdogan zu nennen. Das Label Finders Keepers hat gerade eine brillante Platte von Mustafa Özkent veröffentlicht.

Was dürfen wir demnächst von euch erwarten?

In den USA erscheint im Herbst über Dionysus Records unser aktuelles Album auf Vinyl. In der Zwischenzeit konzentrieren wir uns auf Konzerte und eine neue EP, an der wir schon vor der jüngsten LP gearbeitet haben. Sie kommt wahrscheinlich ebenfalls noch in diesem Jahr heraus.

Wie seht ihr die aktuelle Urheberrechts-Debatte?

Wir sind nicht kategorisch gegen Filesharing. Man kann es unmöglich verhindern, also muss sich die Musikindustrie entsprechend neu orientieren. Illegale Downloads bergen ein potenzielles Risiko, nämlich dass Künstler, die finanziell schlecht dastehen, nie die Chance bekommen, einen kundigen Produzenten hinzuzuziehen, solange kein Label hinter ihnen steht. Das ist hart, und man kann auch nicht erwarten, jeder Musiker bilde sich weiter, um Toningenieur zu werden.

Ich schätze mal, ihr lebt nicht allein von der Musik; wie haltet ihr euch über Wasser?

Doch, einige Mitglieder tun es, während die anderen an verschiedenen Schulen in Istanbul unterrichten.

Vielen Dank, REPLIKAS – hoffentlich sieht man sich in naher Zukunft!

 

Andreas Schiffmann (Info)
Alle Reviews dieser Band: